Andreas Bründer
Verdorrender Aralsee
TRAGöDIE Das einst viertgrößte Binnengewässer der Welt stirbt seit 35 Jahren und wird bald ganz verschwunden sein
Die Sehnsucht des altes Mannes leuchtet aus seinen Augen, als sein Blick über den Horizont schweift. Für einen kurzen Augenblick vermittelt er den Eindruck, das Wasser wäre zurückgekommen - so, wie damals. Sonne, Staub und die trockene Luft haben in den Jahren tiefe Gräben auf seiner Haut und im Gesicht hinterlassen. Die Trauer hat er nicht überwunden, die Trauer darüber, dass sein Meer niemals wieder zurückkommen wird: der Aralsee.
Wassermangel und schlechte Wasserqualität haben die Vegetation in den Amudarya- und Syrdarya-Deltas während der vergangenen Jahren stark verändert. Irreparable Schäden entstanden. Der Fischbestand ging dramatisch zurück. Regionale Wirtschaftskreisläufe brachen fast vollständig zusammen. Wassertransportwege - besonders wichtig für den Handel zwischen Usbekistan und Kasachstan - existieren nicht mehr. "Meine Enkelkinder haben das Meer noch nie gesehen", sagt der alte Mann, "sie sind in einer Wüste, in einem salzigen, unfruchtbaren, dürren Land groß geworden".
Der Aral, ein salzhaltiger See, war ein einzigartiges Naturgebiet mit einer reichen Vielfalt an Tieren und Pflanzen. Inzwischen ist der Wasserspiegel um 19,4 Meter (!) auf derzeit 33,6 Meter gefallen, und der Salzgehalt hat sich verdreifacht. Das Gesamtvolumen des Sees ist von ehemals 1.000 Kubikkilometern auf gerade noch 177 geschrumpft, und seine Fläche hat sich von 60.000 auf 24.900 Quadratkilometer verkleinert.
Sein trauriges Schicksal verdankt der Aral größenwahnsinnigen Wirtschaftsprojekten. Seit Ende der fünfziger Jahre fließt das Wasser der Flüsse Amurdarya und Syrdarya, die den See einst speisten, in Tausende Kilometer lange Kanäle, um damit Baumwollplantagen und Reisfelder Usbekistans zu bewässern - doch versickert ein Großteil des Wassers im Erdreich oder verdunstet in der Sommerhitze. Ein kleiner Rest nur erreicht die extrem durstigen Baumwoll- und Reispflanzen.
Noch bis vor wenigen Jahren war Usbekistan das zweitgrößte Baumwollexportland der Welt. Um die Erträge zu steigern, wurden zudem große Mengen an Düngemitteln und Chemikalien eingesetzt - mit entsprechend giftigen Folgen für die Umwelt. Die Belastungswerte sind hier - in der zu Usbekistan gehörenden, autonomen Republik Karakalpakstan - zehnmal höher als in anderen Regionen Zentralasiens. Landwirtschaft und Tierzucht haben erhebliche Schäden davongetragen. Karakalpakstan ist ein Agrarland. Das Verschwinden des Aralsees und die Vergiftung der Umwelt haben den Menschen ihre Lebensgrundlage entzogen.
Die Folge: Ein Teufelskreis aus Krankheit, Hunger und Armut, dem nur schwer zu entkommen ist. Auf dem Markt der Hauptstadt Nukus kursieren Berichte aus besonders schlimm betroffenen Gebieten: "In Muynak", berichtet eine Bauersfrau, "essen die Menschen nur an jedem zweiten Tag, einige noch seltener. Neulich ist ein alter Mann in die Wüste zum Sterben gegangen. Er wusste, dass seine Familie kein Geld für seine Beerdigung haben würde und entschied, einfach davon zu gehen. Niemand sah ihn je wieder".
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sich die Gesundheitssituation dramatisch verschlechtert. Abdudzhamil Abdusattarov, Chef des Städtischen Klinikums von Nukus, nennt schockierende Zahlen: 63 Prozent der Erwachsenen sowie 60 Prozent der Kinder in der Region sind krank. Die Zahl der Atemwegs- und Durchfallerkrankungen sowie Fälle von Tuberkulose, Anämie, Krebs und Missbildungen bei Neugeborenen stiegen zwischen 1989 und 1997 um 159 Prozent.
Usbekistans Gesundheitssystem ist damit überfordert. Es fehlt an Geld und ausgebildetem Personal. Seit 1997 engagiert sich deshalb Ärzte ohne Grenzen im Land, um vor allem die Tuberkulose-Epidemie zu bekämpfen. Doch als einzige internationale Organisation in der gesamten Aralsee-Region bleiben die Möglichkeiten begrenzt. Den Teufelskreis lässt sich ohnehin nicht durchbrechen. "Wo das Wasser endet, endet die Welt", zitiert der alte Mann ein altes karakalpakisches Sprichwort und blickt unverwandt über den Horizont - dorthin, wo einst das Meer lag.
Der Autor war von 1999-2001 Logistik-Koordinator von Ärzte ohne Grenzen in Usbekistan.