-Der biologische Krieg -
Vorbereitung zum Massenmord
von Dr. Ken Alibek, ehemaliger stellvertretender Direktor von Biopreparat
Eine trostlose, kahle Insel im Aralsee: Einhundert Affen sind an Pfählen festgebunden, die sich in zwei parallelen Reihen bis zum Horizont erstrecken. Ein dumpfer Knall erschüttert die Stille. In der Ferne steigt eine kleine Metallkugel himmelwärts, erreicht ihren Scheitelpunkt und stürzt dann rotierend zur Erde, wo sie beim Aufprall explodiert.
In etwa 25 Meter Höhe breitet sich eine senfgelbe Wolke aus, die sich, während sie auf die Affen niederschwebt, langsam auflöst. Die Affen zerren an ihren Ketten und beginnen zu kreischen. Einige begraben den Kopf zwischen den Beinen, andere versuchen Nase und Mund zu schützen, aber es ist zu spät. Viele sterben bereits.
Vom anderen Ende der Insel aus beobachtet eine Handvoll Männer durch Ferngläser das Geschehen und machten sich Notizen. In ein paar Stunden werden sie die Überlebenden einsammeln und in ihre Käfige zurückbringen. Dort werden sie für die nächsten Tage unter ständiger Beobachtung stehen &endash; bis sie einer nach dem anderen an Milzbrand, Tularämie, Q-Fieber, Brucellose, der Rotzkrankheit oder der Pest zugrunde gehen.
Experimente wie dieses habe ich in den achtziger und frühen neunziger Jahren geleitet. Sie bildeten die Grundlage für den spektakulären Durchbruch der Sowjetunion auf dem Gebiet der biologischen Kriegsführung.
Zwischen 1988 und 1992 war ich Erster Stellvertretender Direktor von Biopreparat, der staatlichen sowjetischen Pharmaziebehörde, die in erster Linie damit betraut war, Waffen zu entwickeln und zu produzieren, die aus den gefährlichsten Viren, Toxinen und Bakterien bestanden, die dem Menschen bekannt sind. Biopreparat war Dreh- und Angelpunkt eines streng geheimen Imperiums von Forschungs-, Test- und Produktionsstätten, die sich in über vierzig über das Gebiet Russlands und Kasachstans verstreuten Anlagen befanden. Nahezu jede bedeutende Regierungsinstitution war in die biologische Kriegswaffenforschung involviert: das Verteidigungsministerium, das Landwirtschaftsministerium, das Gesundheitsministerium, die Sowjetische Akademie der Wissenschaften, das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei und selbstverständlich der KGB. «Das System, wie Biopreparat häufig genannt wurde, war erfolgreicher als der Kreml jemals zu hoffen gewagt hatte. Über einen Zeitraum von zwanzig Jahren, der &endash; Ironie der Geschichte - mit dem Beitritt Moskaus zum Internationalen Biowaffenabkommen begann, errichtete die Sowjetunion das grösste und fortgeschrittenste Biowaffenarsenal der Welt.»
Die Sowjetunion zählte zu den einhundertvierzig Unterzeichnerstaaten des Abkommens, die sich verpflichteten, «keine offensiv einsetzbaren biologischen Kampfstoffe zu entwickeln, zu produzieren, zu lagern und auch anderweitig keine zu erwerben». Gleichzeitig lagerten in unseren geheimen Anlagen in der Nähe Moskaus und in anderen Grossstädten Hunderte Tonnen Milzbranderreger und Dutzende Tonnen Pest- und Pockenerreger, um sie falls nötig gegen die USA und ihre westlichen Verbündeten einzusetzen.
Was in den Laboratorien von Biopreparat geschah, zählte zu den bestgehütetsten Geheimnissen des kalten Krieges.
Ehe ich Experte in biologischer Kriegsführung wurde, machte ich eine Ausbildung zum Mediziner. Die Regierung, der ich diente, sah keinen Widerspruch zwischen dem hippokratischen Eid, den ich abgelegt hatte, und den Vorbereitungen zum Massenmord, an denen ich teilnehmen sollte. Und ich lange Zeit ebenfalls nicht.
Vor knapp zehn Jahren war ich ein hochdekorierter Oberst der Armee, der zur weiteren Beförderung in eine der Eliteeinheiten der Roten Armee vorgesehen war. Wäre ich in Russland geblieben, wäre ich heute Generalmajor und mein Name im Westen unbekannt. 1992, nach siebzehn Jahren im Dienst von Biopreparat, trat ich von meinem Posten zurück und floh mit meiner Familie in die USA. In zahlreichen Vernehmungen vermittelte ich den US-Agenten zum ersten Mal ein zusammenhängendes Bild unserer Aktivitäten. Das meiste davon ist bis heute nicht an die Öffentlichkeit gelangt.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die Gefahr, die einmal von unseren Waffenarsenalen ausging, erheblich geschrumpft. Biopreparat behauptet, keine offensive Forschung mehr zu betreiben, und Russlands Vorräte an Krankheitskeimen und Viren wurden vernichtet. Doch die Gefahr eines Angriffs mit biologischen Waffen hat in dem Masse zugenommen, in dem das in unseren Labors erlangte Wissen und die tödlichen Formeln, die unsere Wissenschafter in jahrelanger Forschung entwickelt haben, zu unberechenbaren Regimen und terroristischen Gruppen durchgesickert ist. Biokampfstoffe sind nicht mehr nur Sache der Supermächte des kalten Krieges. Sie sind billig, leicht herzustellen und noch leichter einzusetzen. In den kommenden Jahren werden wir uns mit ihnen auseinanderzusetzen haben.
Nach meiner Flucht aus Moskau habe ich im Westen eine alarmierende Unkenntnis über biologische Kampfstoffe beobachtet. Einige der herausragenden Wissenschafter, die ich getroffen habe, behaupten, es sei nicht möglich, Viren genetisch so zu verändern, dass sie als zuverlässige Kampfstoffe einsetzbar seien. Sie behaupten weiter, es sei unmöglich, ausreichend Pathogene zu strategischen Zwecken zu lagern und sie so einzusetzen, dass sie ihr maximales Vernichtungspotential entwickelten. Mein Wissen und meine Erfahrung sagen mir, dass sie sich irren. Um zu erklären, warum, habe ich dieses Buch geschrieben.
Nach wie vor wird behauptet, die öffentliche Erörterung dieses Gegenstandes verursache nur unnötiges Aufsehen. Doch die derzeit existierenden Gegenmittel sind hoffnungslos unzureichend, und wenn der biologische Ernstfall eintritt, womit ich fest rechne, wird die Unwissenheit der Öffentlichkeit die Katastrophe noch vergrössern. Der erste Schritt, den wir zu unserem Schutz unternehmen müssen, ist zu begreifen, was biologische Kampfstoffe sind und wie sie funktionieren. Tun wir das nicht, sind wir ihnen ausgeliefert wie die hilflosen Affen im Aralsee.
Artikel 8: Zeit-Fragen Nr. 75c (Monatsbeilage) vom 22.1.2001, Seite 19
Quelle: Ken Alibek mit Stephen Handelman, Direktorium 15 - Russlands Geheimpläne für den biologischen Krieg. München 1999. ISBN 3-430-11013-0